Eine Reprise zu Jules Kindheitslektüre

Jules Beitrag zur frühen Kindheitslektüre hat ein großes Echo hervorgerufen. Es sind ja vermutlich auch nicht viele Blogger unter uns, die mit Büchern nichts am Hut haben. Ich hatte über meine Kindheitserfahrungen bis zum Ende meiner Lehrzeit berichtet. Weil es danach erst so richtig los ging, möchte ich einen kleinen Anschlussbeitrag schreiben.

Nach dem qualifizierenden Hauptschulabschluss machte ich eine Lehre als Werkzeugmacher. Schon während meiner Lehrzeit wurde mir bewusst, dass ich auf dem falschen Weg war. Meine große Schwester studierte Biologie und das war Motivation genug. Um ein halbes Jahr verkürzt schloss ich die Lehre zum Facharbeiter ab. Um möglichst schnell den zweiten Bildungsweg einschlagen zu können, ging ich zuerst meine Wehrpflicht von fünfzehn Monaten ableisten. In dieser Zeit las ich wöchentlich ab montags die Woche über den “Spiegel” komplett aus. Dazu gab es allabendlich eine Flasche Kutscher Alt und eine Tafel Ritter Sport Vollnuss. Das erste Buch aus der Soldatenbibliothek, das ich las, war “Im Westen nichts Neues” von Erich Maria Remarque. Das stimmte mich so richtig auf das Soldatenleben ein. Danach kam folgerichtig “Der Idiot” von Dostojewsky. Das war Liebe auf den ersten Blick. Darauf folgten dann “Die Gebrüder Karamasow” und “Schuld und Sühne”, außerdem George Orwells “1984”. Das war höchste Zeit, denn wir schrieben bereits das Jahr 1983. Wenn ich Wache schieben musste, las ich in der Knastzelle den Nultsch “Allgemeine Botanik” und Hoimar von Ditfurths “Im Anfang war der Wasserstoff”. Zum Ende hin kam dann Goethes “Faust”, die “Wanderjahre” und “Die Wahlverwandtschaften” dazu.

Als ich wieder ein freier Mann war, begann ich in der Berufsaufbauschule zunächst meine mittlere Reife nachzuholen. Ich hatte eine starke Affinität zur englischen Sprache, vermutlich wegen der ganzen Lieder, die ich hörte. Englisch war neben Mathe, Physik, Deutsch und Sozialkunde Lehrfach. Zum Glück kein Sport. Streber, der ich war, nahm ich das Englischbuch aus der fünften Gymnasialklasse meiner großen Schwester und begann es eigenständig durchzuarbeiten. “The zebra in the zoo is suffering from flu”. So ging es los. Als ich dort dann über ein Gedicht stolperte, war es um mich geschehen:

Cape Cod

Sunwarmed sand between my toes
Saltwinds and
Roaring icy waves
I hear the dry scratch of long grasses
And a red kite snapping overhead
Andrea Cox

Ich begann, Easy-Reader-Bücher zu lesen, die schnell langweilig wurden. Als ich dann eine Werbung für den English Bookclub sah, wurde ich schwach und leistete mir von meinem schmalen Bafög-Etat eine Mitgliedschaft. Ich musste pro Quartal ein Buch aus einem Katalog bestellen oder mit der Wahl des Clubs Vorlieb nehmen. Es fiel mir aber nicht schwer. So hat sich eine ansehnliche Sammlung englischer Bücher ergeben. Begonnen hatte ich mit Iris Murdoch und ihrem “The Philosopher’s Pupil”, dann kam Margaret Atwood “The Edible Woman” und Wendy Perriam “The stillness the dancing”. Als ich dieses Buch jetzt wieder in der Hand hatte, beschloss ich es noch einmal zu lesen. Den Anschluß zu “1984” fand ich in dem goldschnittigen George Orwell Sammelband. “Keep the Aspidistra flying” bot einen düsteren Einblick in das städtische Landleben der dreißiger Jahre mit toten Sonntagen und düsteren sozialen Umständen. Schließlich entdeckte ich James Joyce. Als unser Englischlehrer meinte, dass der Ulysses unlesbar sei, hatte er mich bei meinem Ehrgeiz gepackt. Zeitgleich kam der ganze Revoluzzerkram dazu, wie etwa “Global 2000” der Bericht an den Präsidenten, “Friedlich in die Katastrophe” von Holger Strohm, “Biogas wie geht denn das”, “Die Würde des Menschen ist antastbar” von Ulrike Marie Meinhof und so weiter.

Das brachte mich dann alles auch durch die Fachoberschule bis zum Studium. Damit soll es jetzt aber auch mal gut sein. Zumindest pausierte die Literatur dann für eine Weil.

17 Kommentare zu „Eine Reprise zu Jules Kindheitslektüre

  1. Ja, 08/15 habe ich auch gelesen, das hat wohl zu der Verwechslung geführt. Bei mir war es so, dass die Schule nach der Fahne eine richtige Befreiung war. Ja wir hatten auch Lehrer, die uns in der Hand hatten, aber ich hatte das Gefühl, das zu machen, was ich machen wollte. Die Bundeswehr war für mich schrecklich mit diesen ganzen aufgeblasenen Wänsten, die dachten, sie wären Gott, nur weil sie ein paar Hacken auf der Schulter hatten. Ich glaube, dass mir Sprachen liegen. Wenn ich schon immer noch mit Deutsch meine liebe Not habe, so hatte ich doch immer den Drang, andere Sprachen zu verstehen. Geschafft habe ich das tatsächlich aber nur bei Englisch, Basic und Turbo Pascal. Was die angelsächsische Literatur betrifft, ist es vielleicht wirklich so, dass wir verschieden sozialisiert wurden. Ich las aber auch Stanislaw Lem “Solaris”, Chechow “Die Insel Sachalin” und sogar Arbatow “Der sowjetische Standpunkt”, außerdem Franzosen und Japaner. Hauptsächlich lese ich die letzten Jahre aber zeitgenössische, deutsche-, schweizer und österreichische Bücher. Ich sehe aber immer noch nicht so richtig, wo wir auseinander galoppiert sind. Achso was Kriegsliteratur betrifft, ich lese gerad wieder eins: Fuchsrot und Feldgrau. Aber ich muss sagen, danach wird es mir auch wieder reichen, denn bei den aktuellen Geschehnissen sind die dargestellten Details schon verstörend.

    1. Russen-und Sowjetliteratur: Schwierig. Mich bringt diese Eigenart, mit Vatersnamen zu operieren, immer wieder aus dem Konzept: Wer redet da jetzt? Wassili? (der mit vollem Namen Wassili Iwanowitsch Clorodontew heißt) oder Boris Wassiliewitsch? – Außerdem brauchen die ja wie Fontane für die Beschreibung der Gardinenfalten im Hintergrund einer Person 3 oder 4 Seiten. – Ich hab deshalb bisher einen Bogen um Tolstoi und Co gemacht. (“Peter I.” und “Schuld und Sühne” mal probiert: Max. 20 Seiten bis zur Kapitulation.)
      Allerdings einige andere trotzdem geschafft.

      Die besten beiden, die im Langzeitgedächtnis blieben waren:
      1. “Schießt nicht auf weiße Schwäne” von Boris Wassiliew; quasi ein Öko-Roman aus den späten 70ern. Hat mir einer bei der Fahne empfohlen und in die Hand gedrückt.
      2. “Eichhörnchen”(Roman); mancherorts auch als “Eichhörnchen-Roman” geführt; von Anatoli Kim. Sogar 2x gelesen; bisher; beide Male gut.

      Mit unterschiedlich abgebogen meinte ich vor allem meine Macke mit den alten vergessenen Herren: Dahn; Heyse, Spielhagen usw. – Da findste ja leider wirklich keine Gesprächspartner mehr.
      An zeitgenössischen Kram komm’ ich gar nicht mehr ran. Juli Zehs “Über Menschen” z.B. war der letzte Scheiß. Dann wurde “Er ist wieder da” so gehyped! Nach 5 oder 6 Seiten hatte ich genug. Totaler Rotz! Schade um die Bäume. In den Buchläden hatte ich dann mehrere solche bemühten Zeitgeistdinger in der Hand: Malte lebt im falschen Körper… Isabella trennt sich nach 15 Jahren Ehe von Robert, sie fühlt sich ohnehin zu Frauen mehr hingezogen…. Jeffrey hat ADHS, Lea liebt ihn trotzdem… da sind mir Spielhagens Baronessen dann doch lieber.

      Meistens stößt mich schon der Einband ab; in Umschlagsdesign wird scheinbar gar nicht mehr investiert.

      Der letzte interessante Ami, den ich wirklich genießen konnte, war John Casey “Der Traum des Dick Pearce”, aber selbst der stammt schon als Wühltischfund aus den Wendejahren.

      1. Danke für deine ausführliche Darstellung. Alte Sachen lese ich kaum noch, Gustav Meyrink war zuletzt noch dabei. Aber mit zeigenössischer Literatur meine ich gerade nicht Jule Zeh und dergleichen. Was mir sehr gut gefallen hat ist Robert Seethaler und auch Martin Suter. Sogar der Kriminalist Christian Berkel hat zwei tolle Bücher geschrieben. Schau ich ins Ausland, denke ich zum Beispiel auch an Virginie Despentes. Oder Anne Deleé mit ihrer Biografie von Camille Claudele. Was isch gutes von den Amis gelesen habe ist zum Beispiel die Illiminatus Trilogie von Rober Shea und Robert Wilson. Vielleicht fahren wir ja auf verschiedenen Gleisen, aber das muss ja nicht schlimm sein, da gibt es dann auch keine Kollision.

  2. Hans Helmut Kirst schrieb “08/15”, das ist das “Im Westen nichts Neues” des II.Weltkrieges. Eine interessante Verwechslung. Ich hab mal als Schüler im Unterricht zwei KZ-Romane verwechselt, weil mir diese NS-Dauerbeschallung völlige Übersättigung beschwert hatte. Hast du von Kriegsliteratur ähnlich die Nase voll?

    Hut ab davor in “so späten Jahren/nach der Fahne” den 2. Bildungsweg durchgezogen zu haben. Wenn man sich doch nach der Kasernenerfahrung für so erwachsen fühlt. Und dann wieder unter Lehrer-Kommando?

    Bei mir war der Gedanke einige Male andersrum: Studienplatz zurückgeben(während der Fahne)/Studium “schmeißen”(später) um eine Lehre anzufangen? Aber dann säße man mit anfang 20 unter 16jährigen Hüppern an der Berufsschule. Das hielt mich davon ab. Und ich weiß bis heute nicht, ob das klug war oder nicht.

    Und das andere Staunen gilt Leuten, die es schaffen, fremdländisches in Originalsprache zu lesen. Da spart man zwar die Übersetzernivellierungen, die sich automatisch ergeben – aber -hach- Spaß macht’s halt nicht, weil das Drüberweglesen über manche unverständliche Passage oder das dauernde Nachschlagen(Nachguhgeln) den Lesefluss, das Miterleben, unmöglich macht.
    Ich hab da zwei-drei eigene Fehlversuche durch. Habs mit dem auch in deutsch sehr unterhaltsamen Bill Bryson durch. Weil mein Sohn meinte, auf english hat das viel mehr Gags. Er hatte recht. Aber das lesen war ne Qual und die englischen Pointen kann man auf deutsch dann eh eher schlecht als recht wiedergeben. Aber wenn man das richtig kann, dann hat man anderen was voraus.

    Und das dritte Ding, das mir auffällt: Du scheinst dem engl/amerik. Kram sehr verbunden geblieben zu sein. Ich hab ähnliches zwischen 20 und ca.35 auch sehr gern gelesen. Aber irgendwie bin ich weg davon. Hab vor 1 oder 2 Jahren wieder in Bukowski geschaut – und : Achselzuck. – Das passiert mir bei Hesse zum Beispiel nicht.

    “Der Mann mit dem Goldenen Arm”(Autor vergessen) oder “Giovannis Zimmer”(Baldwin),”Der IKS-Haken”(J.Heller; das Buch heißt im Westen “Catch22”) oder “Mahnhattan Transfair”(Autor vergessen) oder “on the road” (Kerouac)…die trieben mich mal um! Würde mich das heute noch jucken? Glaube nicht.

    Seltsam, wie man so zeitchen ähnlich, aber dann doch auseinander galoppieren kann.

  3. Am meisten beeindruckt mich, dass Du Margaret Atwood schon so früh entdeckt hast.
    Ulysses habe ich gerade mal wieder abgebrochen.
    Liebe Grüße, Barbara
    PS: Du müsstest auf meinen Blog kommen. Irgendwie scheint WP das nicht mehr weiterzugeben.🙄

    1. Ja Margaret Attwood ist toll. Ulysses ost nicht einfach, man muss sich aber einfach darauf einlassen. Ich weiß nicht was das ist, aber es wirkt irgendwie. Ich werde gerne mal bei dir vorbeischauen liebe Barbara. Liebe Grüße Wolfgang

      1. Und fast hätte ich es vergessen. Während der Schulzeit habe ich W. Borchert, H. Hesse und Max Frisch gelesen. Mit der Macke, gleich alle Werke lesen zu müssen. Solschenizyns Archipel Gulag fällt mir noch ein. Danach im Studium ging es quer durch alle Epochen und da am liebsten Stefan Zweig.

      2. Wolfgang Borchert habe ich sogar eine Facharbeit über Draußen vor der Tür geschrieben. Den hab ich sehr gemocht. Frisch und Hesse las ich auch, nur Zweig ging an mir vorbei.

      3. Das weiß ich auch nicht. Er hat ja auch Lyrik geschrieben, die keinen großen Stellenwert genießt, das macht ihn mir aber noch sympatischer.

  4. Ich hatte mich damals mehr auf Franzosen wie Camus und Sartre kapriziert. Ich stand einfach mehr auf Französisch als auf Englisch. An den Ulysses hatte ich mich daher gar nicht erst rangetraut. Als ich es dann, warum auch immer, mal mit Finnegans Wake auf Deutsch versuchen wollte, brachte ich die Bibliothekarin in Mönchengladbach in Verlegenheit. Nach bissle Suchen meinte sie: “Ich glaube, davon gibt es gar keine deutsche Übersetzung”. Damit war Joyce für mich erst mal gestorben.

      1. Klingt ja nach Arno Schmidt. Ich hatte immer nur von Hans Wollschläger gehört beziehungsweise gelesen, wenn es um die Ulysses-Übersetzung ging. Bevor ich mich um Joyce kümmere, müsste ich aber erst mal mit “À la recherche du temps perdu” anfangen. Den langen Atem für solche Mammut-Schmöker hatte ich zuletzt – und seither nie mehr – für den “Mann ohne Eigenschaften”. Ist auch schon ein paar Jahre her.

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